Was ist eine „Aussetzung“?
Die Aussetzung liegt vor, wenn der Täter vorsätzlich das Opfer in eine hilflose Lage versetzt oder in einer hilflosen Lage im Stich lässt, obwohl er es in seiner Obhut hat oder ihm sonst beizustehen verpflichtet ist. Zudem muss das Opfer dadurch der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung ausgesetzt werden.
Wann ist eine „Aussetzung“ strafbar?
Der Straftatbestand der Aussetzung schützt das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Opfers. Um sich nach § 221 StGB strafbar zu machen, müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein.
Tatsituation: Hilflose Lage
Es müsste eine hilflose Lage bestehen. Diese ist gegeben, wenn sich das Opfer nicht mehr selbst aus der Todesgefahr oder der Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung befreien kann, weil keine geeigneten eigenen oder fremden Rettungsmittel oder hilfsbereite Personen greifbar sind.
Der Täter muss sein Opfer in diese hilflose Lage versetzt haben. Dies kann zum Beispiel durch das Locken in einen verlassenen Keller geschehen. Eine räumliche Veränderung ist aber nicht erforderlich. So kann auch das Einschließen des Opfers in einen verlassenen Raum oder Gebäude eine Aussetzung darstellen.
Hat sich das Opfer selbst in eine hilflose Lage versetzt, scheidet eine Strafbarkeit aus. Eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung nach § 323c StGB kommt aber weiterhin in Betracht.
Tathandlung: Versetzen bzw. Im-Stich-Lassen
Der Täter müsste das Opfer nach § 221 Abs. 1 StGB in eine hilfelose Lage versetzt oder in einer hilflosen Lage im Stich gelassen haben.
Das Im-Stich-Lassen setzt zunächst voraus, dass der Täter eine Garantenpflicht gegenüber seinem Opfer hat. Er muss also rechtlich dafür einzustehen haben, dass eine Rechtsgutsgefährdung nicht eintritt, vgl. § 13 StGB. Besteht ein allgemeines Schutz- oder Betreuungsverhältnis, und kommt der Täter dem Opfer nicht zu Hilfe, obwohl er es könnte, oder entfernt er sich räumlich von diesem, ergibt sich für das Opfer eine hilflose Lage. In dieser Variante ist der Täter verpflichtet, dem Opfer zu Hilfe zu eilen.
Eine Garantenstellung haben zum Beispiel Eltern gegenüber ihrem Kind, aber auch Ehegatten untereinander. Zudem kann eine sogenannte „Garantenstellung aus Ingerenz“ begründet werden. Dies betrifft Fälle, in denen der Täter das Opfer durch eine vorangegangene gefährliche Handlung erst in eine hilflose Lage bringt. So kann sich auch der Täter einer Körperverletzung zusätzlich der Aussetzung schuldig machen, wenn er sein Opfer allein zurücklässt.
Konkrete Gefährdung
Bei der Aussetzung handelt es sich um ein konkretes Gefährdungsdelikt. Das bedeutet, für eine Strafbarkeit nach § 221 StGB muss es nicht tatsächlich zu einer schweren Gesundheitsschädigung oder gar dem Tod des Opfers gekommen sein – bereits die konkrete Gefahr genügt. Tritt dennoch eine schwerwiegende Folge ein, erhöht sich die Strafandrohung.
Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn der Eintritt des Todes oder der schweren Gesundheitsschädigung nur noch vom Zufall abhängt. Die Schwere der Gesundheitsschädigung muss den Folgen der schweren Körperverletzung nach § 226 StGB ähnlich sein (z.B. Verlust des Sehvermögens, Verlust eines wichtigen Gliedes etc.).
Qualifikation nach § 221 Abs. 2 StGB
Nach § 221 Abs. 2 Nr. 1 StGB erhöht sich der Strafrahmen, wenn die Aussetzung das eigene Kind oder eine Person betrifft, die dem Täter zur Erziehung oder Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist. Nicht notwendig ist, dass es sich um das eigene, leibliche Kind handelt – auch Adoptivkinder fallen hierunter.
Eine Person ist dem Täter anvertraut, wenn ein Obhutsverhältnis zwischen diesem und dem Opfer besteht. Durch dieses Verhältnis muss der Täter das Recht und die Pflicht haben, die Lebensführung des Opfers und damit auch dessen geistige und soziale Entwicklung zu überwachen und zu leiten. Auch Unterordnungsverhältnisse, die ein gewisses Maß von Verantwortung für das Wohl des Schutzbefohlenen beinhalten, sind mit umfasst. So wäre es etwa bei Betreuern, Pflegern, Lehrern und Ausbildern.
Die §§ 221 Abs. 2 Nr. 1 StGB, 221 Abs. 3 StGB enthalten Erfolgsqualifikationen. Die Aussetzung muss dann entweder eine schwere Gesundheitsschädigung oder den Tod des Opfers hervorrufen. Eine schwere Gesundheitsschädigung ist ein physischer oder psychischer Krankheitszustand, der die Gesundheit des Geschädigten ernstlich, einschneidend und nachhaltig beeinträchtigt.
Vorsatz
Der Täter muss die Tat vorsätzlich begangen haben. Er muss sie also mit Wissen und Wollen verwirklicht haben. Hierbei ist ausreichend, dass der Täter den Straftatbestand billigend in Kauf genommen und zumindest für möglich gehalten hat (sog. Eventualvorsatz).
Handelt der Täter jedoch nur fahrlässig, also lässt er „nur“ die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht, so liegt keine Aussetzung vor, da das Gesetz eine solche Tat nicht unter Strafe stellt.
Versuch
Der Versuch ist mangels gesetzlicher Verankerung nicht strafbar.
Strafantrag
Bei dem Straftatbestand handelt es sich um ein sogenanntes Offizialdelikt. Das bedeutet, dass eine solche Straftat durch die Strafverfolgungsbehörde (Staatsanwaltschaft) bei Kenntniserlangung von Amts wegen verfolgt wird. Ein Antrag durch den Geschädigten oder dessen gesetzlichen Vertreter ist daher nicht erforderlich.
Beispiele einer Aussetzung
Nachfolgend sind zur näheren Erläuterung des Straftatbestandes einige Beispiele einer strafbaren Aussetzung aufgezählt.
Zurücklassen eines Betrunkenen
Der BGH (Az. 4 StR 529/74) hat § 221 StGB in einem Fall bejaht, bei dem ein Gastwirt einen stark betrunkenen Gast am Straßenrand vor seiner Gastwirtschaft zurückgelassen hat. Zuvor hatte der Gastwirt noch mehrfach angeboten ein Taxi zu rufen, was der Betrunkene jedoch ablehnte. Später wurde der Betrunkene von einem Auto überrollt und verstarb infolge der Verletzungen.
Ähnlich urteilte der BGH in einem weiteren Fall (Az. 4 StR 463/07), in dem Polizeibeamte einen betrunkenen jungen Mann auf der Landstraße aussetzten und zurückließen. Der Jugendliche wurde überfahren.
Zurücklassen bei Bewusstlosigkeit
Wer für die Bewusstlosigkeit eines Anderen verantwortlich ist – etwa durch einen Schlag auf den Kopf oder durch Zuführung von Drogen – und diesen in eine hilflose Lage versetzt oder wegen einer Garantenpflicht im Stich lässt, begeht eine Aussetzung.
Zurücklassen im Winter
Typisches Beispiel ist auch das Versetzen in eine hilflose Lage oder Im-Stich-Lassen von Personen im Winter. Durch die Kälte kommen diese in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung oder des Todes. Gesagtes gilt erst recht, wenn die Person lediglich leicht bekleidet ist.
Zurücklassen eines Kleinkindes im Auto bei Hitze
Ein Fall einer Aussetzung in Form des im-Stich-Lassens findet sich in den Sommermonaten beinahe jährlich in den Medien. Wer ein Kleinkind bei Hitze länger im Auto zurück lässt, setzt dieses einer erheblichen Gefahr aus. Handelt es sich um das eigene Kind erhöht sich die Strafandrohung nach Absatz 2.
Zurücklassen pflegebedürftiger Personen
Wer eine Garantenpflicht für hilflos Kranke inne hat, kann sich bereits durch ein Entfernen nach § 221 StGB strafbar machen, wenn sich die pflegebedürftige Person in einer latenten Gefahr befindet und durch das Entfernen Rettungschancen entzogen werden. Es handelt sich sozusagen, um eine “unterlassene Hilfeleistung bei pflegebedürftigen Personen”.
Einsperren ohne Nahrung
Auch bei einem längeren Einsperren einer Person in den häuslichen Keller, ein Zimmer – oder gar durch Einmauern ohne Zugang zu Nahrung, Luft oder Wasser handelt es sich u.a. um eine Aussetzung.
Strafe
Die Straftat der Aussetzung nach § 221 StGB wird mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Wird durch die Aussetzung eine schwere Gesundheitsschädigung herbeigeführt oder ist das Opfer ein (anvertrautes) Kind, so droht eine Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren. Tritt dessen Tod ein, folgt eine Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren; eine Geldstrafe ist dabei nicht vorgesehen.
Die konkrete Strafe ist dann wieder von den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalls abhängig – insbesondere von der konkreten Tathandlung und dem Grad der Gefährdung.