Was ist die „Entziehung Minderjähriger“?
Minderjährige bedürfen aufgrund ihres Alters und der noch nicht vollständig ausgeprägten Einsichts- und Handlungsfähigkeit besonderen Schutz durch das Gesetz. Hierfür werden den Sorgeberechtigten gewisse Rechte und Pflichten gegenüber den Minderjährigen eingeräumt bzw. auferlegt. Dabei gelten insbesondere umfangreiche Fürsorgepflichten sowie Obhuts- und Aufenthaltsbestimmungsrechte.
Diese kann ein anderer dann verletzten, wenn er den Minderjährigen gegenüber dessen Sorgeberechtigten entzieht oder vorenthält. Diese umgangssprachlich genannte „Kindesentziehung / Kindesentführung“ kann dann wegen Entziehung Minderjähriger nach § 235 StGB wie folgt strafbar sein.
Wann ist die „Entziehung Minderjähriger“ strafbar?
Der Straftatbestand schützt das elterliche bzw. familienrechtliche Sorgerecht insbesondere das Obhuts- und Aufenthaltsbestimmungsrecht, welches sich nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch richtet (§§ 1626 ff. BGB) sowie die körperliche und seelische Unversehrtheit des (minderjährigen) Opfers.
Um sich nach § 235 Abs. 1 bzw. Abs. 2 StGB strafbar zu machen, müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein.
Der Tatbestand nach § 235 Abs. 1 StGB
Der Täter macht sich nach § 235 Abs. 1 StGB strafbar, wenn er einen Minderjährigen durch Gewalt, Drohung oder List (Nr. 1) oder ein Kind, ohne dessen Angehöriger zu sein (Nr. 2), dem Berechtigten entzieht oder vorenthält. Willigt ein Minderjähriger in die Handlungen des Täters ein, so ist dies unerheblich; erfolgt jedoch ein Einverständnis des Sorgeberechtigten, so bleibt die Tat straflos.
Nach § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB muss der Täter einen Minderjährigen, also eine Person, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, durch Gewalt, Drohung oder List dem Berechtigten entziehen oder vorenthalten. Der Täter kann hierbei jedermann sein. Das bedeutet, dass auch die Entziehung des Minderjährigen von einem Elternteil gegenüber einen anderen Elternteil strafbar sein kann.
Der Täter müsste gegenüber dem Berechtigten den Minderjährigen entziehen oder vorenthalten. Berechtigt gegenüber einem Minderjährigen können die Eltern, ein Elternteil, ein Vormund oder ein Pfleger sein. Die Berechtigung richtet sich grundsätzlich nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB).
Unter Kindesentziehung wird die Beeinträchtigung des Sorgerechts durch räumliche Trennung für eine gewisse Dauer verstanden, sodass dieses Recht nicht mehr ausgeübt werden kann. Die Entziehung kann auch durch Unterlassen erfolgen, in dem der Täter beispielsweise den Aufenthaltsort des Minderjährigen nicht verrät. Vorenthalten ist hingegen das Verweigern oder Erschweren der Herausgabe des Minderjährigen.
Die Kindesentziehung oder Vorenthaltung muss durch Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List erfolgen. Dies kann sich gegen das Opfer selbst, den Sorgeberechtigten oder einen Dritten richten.
Unter Gewalt versteht man jede physische Einwirkung auf den Körper des Opfers, sodass die Willensbildung des Opfers ganz ausgeschlossen wird oder sich das Opfer dem Willen des Täters unterwirft. Dabei muss sich die Einwirkung auf den Körper des Opfers, zum Beispiel durch Tritte bzw. Schläge, Betäubung oder Fesselungen auswirken.
Die Entziehung oder Vorenthaltung kann jedoch auch unter Anwendung von Drohungen mit einem empfindlichen Übel erfolgen. Unter einer Drohung versteht man das Inaussichtstellen eines künftigen Nachteils (Übel), auf das der Drohende (Täter) Einfluss zu haben vorgibt. List erfordert hingegen ein geschicktes Verbergen der wahren Absichten.
Nach § 235 Abs. 1 Nr. 2 StGB muss der Täter, der kein Angehöriger des Opfers ist, ein Kind, also eine Person, die das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, dem Berechtigten entziehen oder vorenthalten. Dabei ist der Täter kein Angehöriger, wenn er mit dem Kind weder verwandt noch verschwägert ist, vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 1 StGB.
Der Tatbestand nach § 235 Abs. 2 StGB
Der Täter macht sich nach § 235 Abs. 2 StGB der Entziehung Minderjähriger strafbar, wenn er ein Kind dem Berechtigten entzieht, um es ins Ausland zu verbringen (Nr. 1 – sog. „aktive Entführung)“ oder es im Ausland vorenthält (Nr. 2 – sog. „passive Entführung“).
Täter kann hierbei jedermann sein. Das Opfer muss ein Kind, mithin eine Person sein, die das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Berechtigter gegenüber diesem Kind können die Eltern, ein Elternteil, ein Vormund oder ein Pfleger sein.
Die Qualifikation nach § 235 Abs. 4 StGB
Das Gesetz sieht in § 235 Abs. 4 StGB eine Strafschärfung von einem bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe vor, wenn der Täter durch die Tat das (minderjährige) Opfer in die Gefahr des Todes, einer schweren Gesundheitsschädigung oder einer erheblichen Schädigung der körperlichen bzw. seelischen Entwicklung bringt (Nr. 1) oder die Tat gegen Entgelt oder in der Absicht begeht, sich oder einen Dritten zu bereichern (Nr. 2). Dabei muss die Gefahr nach Nummer eins konkret, also tatsächlich für das Opfer bestehen.
Die Erfolgsqualifikation nach § 235 Abs. 5 StGB
Das Gesetz sieht in § 238 Abs. 3 StGB eine Strafschärfung von einer Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren vor, wenn der Täter durch die Tat nach § 235 Abs. 1 bzw. Abs. 2 StGB den Tod des Opfers verursacht. Dabei muss der Tod wenigstens fahrlässig herbeigeführt worden sein, vgl. § 18 StGB.
Vorsatz
Der Täter muss die Kindesentziehung bzw. die Kindesentführung vorsätzlich begangen haben. Er muss diese also mit Wissen und Wollen des Straftatbestandes verwirklicht haben. Hierbei ist ausreichend, dass der Täter die Tat billigend in Kauf genommen und zumindest für möglich gehalten hat (sog. Eventualvorsatz).
Handelt der Täter jedoch nur fahrlässig, also lässt er „nur“ die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht, so ist dies mangels gesetzlicher Verankerung nicht strafbar.
Versuch
Der Versuch ist nur in den Fällen des § 235 Abs. 1 Nr. 2 StGB und des § 235 Abs. 2 Nr. 1 StGB (vgl. § 235 Abs. 3 StGB) sowie in den Fällen des § 235 Abs. 4 bzw. Abs. 5 StGB strafbar. Ein Versuch liegt bereits dann vor, wenn der Täter nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar angesetzt hat (§ 22 StGB). Hierfür muss der Täter die Schwelle zum „Jetzt-geht’s-los“ überschritten haben und es muss unmittelbar eine Rechtsgutverletzung bevorstehen. Der Täter muss also mit der Tathandlung, der Entziehung bzw. der Vorenthaltung, begonnen haben. Zudem muss er mit dem Entschluss zur Tat, also vorsätzlich gehandelt haben.
Strafantrag
Die Entziehung Minderjähriger nach § 235 Abs. 1 bzw. Abs. 2 bzw. Abs. 3 StGB erfordert einen Strafantrag, vgl. § 235 Abs. 7 StGB. Dabei muss also ein Antrag des gesetzlichen Vertreters erfolgen oder die Strafverfolgungsbehörde (Staatsanwaltschaft) setzt sich über das Fehlen eines Antrages hinweg, wenn ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht. Die Voraussetzungen hierfür richten sich nach §§ 77 ff. StGB.
Bei den Straftaten nach § 235 Abs. 4 bzw. Abs. 5 StGB handelt es sich um sog. Offizialdelikte. Das bedeutet, dass eine solche Straftat durch die Strafverfolgungsbehörde (Staatsanwaltschaft) bei Kenntniserlangung von Amts wegen verfolgt wird. Ein Antrag durch den Geschädigten bzw. dessen gesetzlichen Vertreter ist dabei nicht erforderlich.
Strafe
Die Entziehung Minderjähriger gem. § 235 Abs. 1 bzw. Abs. 2 StGB wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft.
Eine Strafmilderung erfolgt in minder schweren Fällen nach § 238 Abs. 6 StGB im Hinblick auf die (Erfolgs-) Qualifikationen nach Absatz 4 und 5. Hier kann dann die Freiheitsstrafe im Falle des § 235 Abs. 4 StGB sechs Monate bis zu fünf Jahren und im Falle des § 235 Abs. 5 StGB ein Jahr bis zu zehn Jahren betragen.