Unerlaubter Aufenthalt – § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG

Ein Aufenthalt ohne gültigen Aufenthaltstitel kann strafbar sein – muss es aber nicht. § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG stellt das Verbleiben in Deutschland unter Strafe, wenn bestimmte verwaltungsrechtliche Voraussetzungen erfüllt sind. Doch wann liegt wirklich ein unerlaubter Aufenthalt vor? Und wann droht eine Strafe? Dieser Beitrag erklärt klar und verständlich, was Betroffene wissen müssen – inklusive Praxisbeispielen, häufigen Irrtümern und der Bedeutung der Rückführungsrichtlinie der EU.

Inhalt

Unerlaubter Aufenthalt – § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG

Der Vorwurf eines unerlaubten Aufenthalts trifft viele Menschen völlig unerwartet – etwa weil ihr Aufenthaltstitel abgelaufen ist, weil ein Antrag auf Verlängerung nicht rechtzeitig gestellt wurde oder weil die betroffene Person gar nicht wusste, dass sie eine Aufenthaltserlaubnis benötigt. Doch wann genau macht man sich wegen unerlaubten Aufenthalts strafbar? Was sind die Voraussetzungen? Und was bedeutet es, wenn das Strafrecht hier vom Verwaltungsrecht „abhängig“ ist?

Dieser Beitrag erklärt umfassend, wann eine Strafbarkeit wegen unerlaubten Aufenthalts vorliegt, welche Ausnahmen gelten und warum nicht jeder Verstoß automatisch zu einer Verurteilung führen muss.

Wann liegt ein unerlaubter Aufenthalt vor?

Ein unerlaubter Aufenthalt liegt vor, wenn sich jemand in Deutschland aufhält, ohne einen gültigen Aufenthaltstitel zu besitzen – obwohl er ausreisen müsste. Genau das regelt § 95 Abs. 1 Nr. 2 des Aufenthaltsgesetzes. Strafbar ist dabei nicht eine bestimmte Handlung, sondern vielmehr das pflichtwidrige „Verbleiben“ im Land. Juristisch spricht man von einem sogenannten „Unterlassungsdelikt“ – es geht also um das Unterlassen der Ausreise trotz bestehender Pflicht.

Damit jemand sich strafbar macht, müssen zusätzlich bestimmte verwaltungsrechtliche Voraussetzungen vorliegen: Die Person muss zur Ausreise verpflichtet sein (§ 50 AufenthG) und diese Ausreisepflicht muss vollziehbar sein (§ 58 Abs. 2 AufenthG). Außerdem darf die Abschiebung nicht ausgesetzt sein – also keine Duldung vorliegen. Und: Die Person muss sich dem Rückführungsverfahren entzogen haben oder es muss bereits gescheitert sein.

Die Rolle des Verwaltungsrechts: „Verwaltungsakzessorietät“

Ein zentrales Merkmal dieser Strafvorschrift ist die sogenannte „Verwaltungsakzessorietät“. Das bedeutet: Ob sich jemand strafbar gemacht hat, hängt entscheidend davon ab, wie die zuständigen Ausländerbehörden die Lage beurteilt haben – vor allem, ob ein Aufenthaltstitel wirksam war oder nicht. Der Straftatbestand ist also direkt vom Verwaltungsrecht abhängig.

Wichtig ist dabei: Entscheidend ist allein, ob ein Aufenthaltstitel formell gültig war – nicht, ob er inhaltlich korrekt oder rechtmäßig erteilt wurde. Der Bundesgerichtshof formuliert das klar: „Wirksam ist wirksam.“ Das heißt: Liegt ein formal gültiger Aufenthaltstitel vor, liegt keine Strafbarkeit vor – selbst wenn die Behörden diesen nachträglich als „rechtswidrig“ einstufen würden.

Auch wenn eine Person bei der Einreise gelogen hat oder einen anderen Zweck als angegeben verfolgt hat (etwa Arbeit statt Urlaub), ist das zunächst unbeachtlich – solange der Aufenthaltstitel formell gültig ist. Strafbar wird es erst, wenn der Aufenthaltstitel durch eine bewusste Falschangabe erschlichen wurde (z. B. durch falsche Angaben im Visumantrag).

Wann ist der Aufenthalt also strafbar?

Damit der Aufenthalt als strafbar gilt, müssen vier Bedingungen gleichzeitig erfüllt sein:

  1. Kein gültiger Aufenthaltstitel – etwa weil das Visum abgelaufen ist oder nie ein Antrag gestellt wurde.

  2. Bestehende Ausreisepflicht – nach § 50 AufenthG.

  3. Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht – nach § 58 Abs. 2 AufenthG.

  4. Keine Duldung oder legale Ausnahme – also keine aufschiebende Wirkung.

Ein Aufenthalt ist also nur dann strafbar, wenn keine dieser „Sicherungen“ greift. Wer z. B. eine Duldung besitzt, macht sich nicht strafbar. Wer rechtzeitig einen Antrag stellt, darf oft bis zur Entscheidung in Deutschland bleiben. Und wer aus humanitären Gründen nicht abgeschoben werden kann, kann auf eine Duldung hoffen – auch das schließt die Strafbarkeit aus.

Untertauchen oder Täuschung: Wann die Strafbarkeit greift

Wenn sich eine Person den Behörden bewusst entzieht, also „untertaucht“, kann das zur Strafbarkeit führen – selbst wenn sie ursprünglich Anspruch auf eine Duldung gehabt hätte. Denn in diesem Fall ist die Ausländerbehörde gar nicht mehr in der Lage, den rechtlichen Status zu prüfen. Der Betroffene bringt sich selbst in eine Lage, in der die Voraussetzungen für eine Duldung nicht festgestellt werden können – und genau das führt dann zur Strafbarkeit.

Anders ist es, wenn die Ausländerbehörde selbst versäumt, über eine Duldung zu entscheiden oder diese zu erteilen – in solchen Fällen kann keine Strafbarkeit angenommen werden.

Der Einfluss des EU-Rechts: Vorrang des Rückführungsverfahrens

Eine weitere wichtige Schutzvorschrift ergibt sich aus dem EU-Recht: die sogenannte Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG). Sie besagt, dass ein Staat in der Regel zuerst ein Rückführungsverfahren durchführen muss, bevor er strafrechtlich gegen eine Person vorgehen darf. Dieses Verfahren umfasst unter anderem die Anordnung der Ausreise, eine Frist zur freiwilligen Ausreise und erst danach Maßnahmen wie Abschiebung.

Die Strafverfolgung darf das Rückführungsverfahren nicht behindern oder verzögern. Das bedeutet: Solange das Rückführungsverfahren läuft und die Ausländerbehörde Kenntnis vom Aufenthalt hat, darf kein Strafverfahren wegen unerlaubten Aufenthalts geführt werden.

Erst wenn das Verfahren gescheitert ist – etwa weil die Person untertaucht – ist eine Strafverfolgung zulässig. Diese Auslegung soll sicherstellen, dass menschenrechtliche Standards gewahrt bleiben und das Strafrecht als „letztes Mittel“ (ultima ratio) zum Einsatz kommt.

Schengen-Visa, Erwerbstätigkeit und Positivstaaten

Besitzt eine Person ein gültiges Schengen-Visum – etwa für einen touristischen Aufenthalt – und arbeitet trotzdem in Deutschland, ist das nicht automatisch strafbar. Entscheidend ist, dass das Visum formell gültig war. Die bloße Zweckverfehlung führt nicht zur Unwirksamkeit. Nur wenn das Visum durch bewusste Täuschung (z. B. bei der Antragstellung) erlangt wurde, kann eine Strafbarkeit nach § 95 Abs. 6 AufenthG vorliegen.

Für sogenannte „Positivstaater“ – etwa aus der Ukraine – gilt: Sie dürfen ohne Visum für bis zu 90 Tage einreisen. Wer in diesem Zeitraum arbeitet, ohne eine entsprechende Genehmigung, macht sich unter Umständen strafbar – aber nur dann, wenn die formellen Voraussetzungen nicht (mehr) vorliegen.

Beispiel aus der Praxis

Ein vietnamesischer Staatsbürger reist mit einem gültigen Schengen-Visum aus Tschechien nach Deutschland ein. Er nimmt eine Erwerbstätigkeit auf, obwohl das Visum nur für touristische Zwecke gilt. Strafbar ist das allein nicht – solange das Visum formell gültig ist. Wird jedoch nachgewiesen, dass er bereits bei der Beantragung des Visums falsche Angaben gemacht hat, kann das zu einer Strafbarkeit führen – insbesondere nach § 95 Abs. 6 AufenthG.

Was droht im Fall einer Verurteilung?

Der unerlaubte Aufenthalt ist mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bedroht. In der Praxis führen viele Verfahren jedoch nicht zur Strafe – entweder, weil das Rückführungsverfahren Vorrang hat oder weil humanitäre Gründe dagegen sprechen. Oft wird das Verfahren eingestellt oder lediglich ein Schuldspruch ohne Strafe ausgesprochen.

In schwerwiegenden Fällen – etwa bei wiederholtem Untertauchen oder bei zusätzlicher Täuschung – kann es jedoch zu einer echten Strafverfolgung kommen. Auch die Einschätzung, ob eine Duldung vorgelegen haben könnte, spielt dabei eine Rolle.

Häufige Fragen zum unerlaubten Aufenthalt

Ist unerlaubter Aufenthalt immer eine Straftat?
Nein. Nur wenn bestimmte verwaltungsrechtliche Voraussetzungen erfüllt sind – etwa keine Duldung, keine rechtzeitige Antragstellung und keine laufende Rückführung –, liegt eine Strafbarkeit vor. Oft bleibt es bei einem verwaltungsrechtlichen Verfahren.

Was bedeutet „Verwaltungsakzessorietät“?
Das heißt: Das Strafrecht richtet sich danach, was die Ausländerbehörde entschieden hat. Liegt ein gültiger Aufenthaltstitel vor, besteht keine Strafbarkeit – auch wenn die Behörden den Titel später für rechtswidrig halten.

Kann man trotz gültigem Visum strafbar sein?
Grundsätzlich nein. Entscheidend ist, ob das Visum formal gültig ist. Erst wenn es durch Täuschung erlangt wurde oder widerrufen wurde, kann eine Strafbarkeit bestehen.

Anzeige erhalten?

Wenn Sie eine Anzeige wegen unerlaubten Aufenthalts erhalten haben, heißt das noch nicht automatisch, dass Sie sich strafbar gemacht haben. Ob tatsächlich eine Straftat vorliegt, hängt von vielen Faktoren ab – vor allem von verwaltungsrechtlichen Entscheidungen und Ihrer konkreten Situation. In vielen Fällen bestehen gute Chancen auf Einstellung des Verfahrens oder ein Absehen von Strafe. Entscheidend ist, ob die Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel oder eine Duldung vorlagen – oder ob das Rückführungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt wurde.

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