§ 255a StPO – Vorführung einer aufgezeichneten Zeugenvernehmung
In einem Strafverfahren spielen Zeugen häufig eine zentrale Rolle. Normalerweise werden sie persönlich vor Gericht befragt. Doch was passiert, wenn ein Zeuge besonders schutzbedürftig ist oder aus anderen Gründen nicht nochmals aussagen kann oder soll? In solchen Fällen erlaubt § 255a der Strafprozessordnung (StPO) unter bestimmten Voraussetzungen, dass eine frühere Vernehmung, die in Bild und Ton aufgezeichnet wurde, in der Hauptverhandlung gezeigt wird. Damit kann auf eine erneute Vernehmung verzichtet werden – insbesondere, wenn dies dem Schutz des Zeugen dient oder das Verfahren effizienter gestaltet werden soll.
Was § 255a StPO regelt
Die Vorschrift unterscheidet zwei Situationen: Nach § 255a Absatz 1 StPO ist die Vorführung einer Videovernehmung möglich, wenn auch die Verlesung eines schriftlichen Protokolls zulässig wäre. Das kann etwa der Fall sein, wenn der Zeuge nicht mehr verfügbar ist oder nicht mehr aussagen möchte. § 255a Absatz 2 StPO geht darüber hinaus: Er erlaubt die Verwendung einer Videoaufnahme als vollständigen Ersatz für die persönliche Vernehmung – etwa bei kindlichen Zeugen oder Opfern von Sexualdelikten. In diesen Fällen muss es sich allerdings um eine richterliche Vernehmung handeln, bei der der Angeklagte und sein Verteidiger mitwirken konnten.

Warum es diese Regelung gibt
§ 255a StPO wurde eingeführt, um zwei Ziele zu erreichen: Zum einen soll die Beweiserhebung moderner, effizienter und verlässlicher werden – gerade durch die Nutzung technischer Möglichkeiten wie Videoaufzeichnungen. Zum anderen sollen insbesondere Kinder und Opfer schwerer Straftaten vor der psychischen Belastung einer erneuten Aussage im Gerichtssaal geschützt werden. Die Vorschrift erlaubt somit eine gewisse „Vorverlagerung“ der Hauptverhandlung – der Zeuge wird schon früher vernommen, diese Vernehmung wird dokumentiert, und das Gericht kann sie später erneut ansehen.
Wann § 255a StPO angewendet werden kann
Damit die Videoaufnahme in der Hauptverhandlung gezeigt werden darf, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Die ursprüngliche Vernehmung muss richterlich durchgeführt und vollständig in Bild und Ton aufgezeichnet worden sein (§ 58a StPO). Der Angeklagte und sein Verteidiger müssen Gelegenheit gehabt haben, dabei mitzuwirken (§ 168c StPO). Außerdem darf der Zeuge unmittelbar nach der Vernehmung nicht widersprochen haben (§ 255a Absatz 2 Satz 2 StPO). Besonders wichtig: Absatz 2 greift nur bei bestimmten Straftaten, etwa bei Sexualdelikten (§§ 174 bis 184k Strafgesetzbuch – StGB), Tötungsdelikten (§§ 211 bis 213 StGB), Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB) oder Freiheitsdelikten (§§ 232 bis 239 StGB). In allen Fällen ist ein gerichtlicher Beschluss notwendig, in dem das Gericht die Entscheidung zur Vorführung der Aufnahme ausdrücklich und nachvollziehbar begründet (§ 255a Absatz 2 Satz 3 StPO).
Praxisbeispiel zur Veranschaulichung
Ein 14-jähriges Mädchen wurde als mutmaßliches Opfer einer Sexualstraftat richterlich vernommen. Die Aussage wurde aufgezeichnet. Zwei Jahre später beginnt die Hauptverhandlung. Da das Mädchen zum Zeitpunkt der Verhandlung noch nicht volljährig ist, darf die Videoaufnahme ihrer Aussage gezeigt werden – sofern der Verteidiger an der Vernehmung beteiligt war, die Vernehmung ordnungsgemäß durchgeführt wurde und das Mädchen nicht sofort nach der Aufzeichnung widersprochen hat. Eine erneute persönliche Aussage vor Gericht ist dann nicht mehr erforderlich (§ 255a Absatz 2 StPO).
Was Angeklagte und Verteidiger beachten sollten
Wer von einem Strafverfahren betroffen ist, sollte genau prüfen (lassen), ob die gesetzlichen Vorgaben des § 255a StPO tatsächlich eingehalten wurden. Dazu gehört insbesondere die Frage, ob die Vernehmung richterlich war, ob die Mitwirkung von Verteidigung und Angeklagtem möglich war, ob ein Widerspruch des Zeugen erklärt wurde und ob die Vorführung per Gerichtsbeschluss ordnungsgemäß angeordnet wurde (§§ 251, 253 StPO). Auch kann es entscheidend sein, ob die Videoaufnahme technisch verwertbar ist und die Aussage korrekt wiedergibt.
Verwertung von Videoaufnahmen trotz Widerspruch?
Opfer einer Sexualstraftat haben ein besonderes Widerspruchsrecht (§ 58a Absatz 1 Satz 3 StPO). Wenn sie direkt nach der Vernehmung erklären, dass die Aufnahme nicht in der Hauptverhandlung gezeigt werden soll, muss ihre Entscheidung respektiert werden. Die Videoaufnahme darf dann nicht gezeigt werden (§ 255a Absatz 2 StPO). Erfolgt der Widerspruch nicht rechtzeitig oder wird er später zurückgenommen, bleibt die Aufnahme verwertbar.

Ergänzende Vernehmung trotz Video möglich?
Auch wenn eine Videoaufnahme gezeigt wird, kann das Gericht entscheiden, dass eine ergänzende Vernehmung des Zeugen erforderlich ist – etwa, wenn neue Aspekte aufgeklärt werden müssen (§ 255a Absatz 2 Satz 4 i. V. m. § 244 Absatz 2 StPO). In solchen Fällen kann der Zeuge noch einmal gehört werden, gegebenenfalls unter besonderen Schutzmaßnahmen wie Videoübertragung (§ 247a StPO) oder Ausschluss der Öffentlichkeit (§ 171b Gerichtsverfassungsgesetz – GVG).
Gerichtlicher Beschluss ist Pflicht
Die Entscheidung, eine Videoaufnahme anstelle einer persönlichen Vernehmung zu zeigen, muss das Gericht in einem förmlichen Beschluss treffen (§ 255a Absatz 2 Satz 3 StPO). Dieser Beschluss muss nachvollziehbar begründet werden. Ohne eine solche Entscheidung darf die Aufnahme nicht verwendet werden.
Rechtsmittel bei fehlerhafter Anwendung
Wurde § 255a StPO fehlerhaft angewendet, kann dies im Revisionsverfahren gerügt werden (§ 337 StPO). Das ist etwa der Fall, wenn der Verteidiger nicht an der Vernehmung beteiligt war, obwohl das erforderlich gewesen wäre, oder wenn der Beschluss zur Vorführung fehlt oder nicht begründet wurde. Auch kann es ein Fehler sein, wenn das Gericht eine Vernehmung durch ein Video ersetzt, obwohl die Voraussetzungen nicht vorlagen oder der Zeuge widersprochen hatte (§§ 250, 251, 252 StPO).
Häufige Fragen zum § 255a StPO
Kann eine Videoaufnahme gezeigt werden, obwohl der Zeuge verfügbar wäre?
Ja, sofern die Voraussetzungen des § 255a Absatz 1 StPO erfüllt sind. Ob dies sinnvoll ist, entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 244 Absatz 2 StPO).
Gilt die Regelung auch für polizeiliche Vernehmungen?
Nur § 255a Absatz 1 StPO kann auf polizeiliche Vernehmungen angewendet werden – § 255a Absatz 2 erfordert zwingend eine richterliche Vernehmung.
Was passiert, wenn der Zeuge widerspricht?
Wird der Widerspruch unmittelbar nach der Vernehmung erklärt (§ 58a Absatz 1 Satz 3 StPO), darf die Aufnahme nicht gezeigt werden (§ 255a Absatz 2 StPO). Erfolgt er nicht rechtzeitig oder wird er zurückgenommen, bleibt die Aufnahme verwertbar.
Anzeige erhalten?
Wenn Sie beschuldigt werden und eine frühere Zeugenaussage per Video gezeigt werden soll, ist es wichtig, genau hinzusehen. Wurden alle Verfahrensvorschriften eingehalten? Wurde Ihnen die Möglichkeit zur Mitwirkung gegeben? Wurde die Vorführung ordnungsgemäß beschlossen? Fehler in diesem Bereich können Ihre Verteidigungsrechte erheblich beeinträchtigen – umso wichtiger ist eine rechtzeitige und genaue Prüfung der rechtlichen Grundlagen.


