Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Beamtenverhältnisses

Ein besonderes Obhutsverhältnis kann dazu führen, dass Menschen gewisse Grenzen überschreiten. Ein sexueller Missbrauch unter Ausnutzung einer Sonderstellung kann dann nach § 174 c StGB strafbar sein. Welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen und welche Strafe droht, lesen Sie im folgenden Beitrag.

Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Beamtenverhältnisses

Zwischenmenschliches Vertrauen ist das Fundament jeder medizinischen, therapeutischen oder betreuenden Tätigkeit. Doch was geschieht, wenn dieses Vertrauen ins Wanken gerät – sei es durch ein Missverständnis, eine Grenzüberschreitung oder eine falsche Beschuldigung? Der Straftatbestand des § 174c StGB betrifft genau diese sensiblen Konstellationen. Er stellt sexuelle Handlungen unter Strafe, wenn sie unter Ausnutzung eines besonderen Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses erfolgen.

Für den Strafverteidiger geht es dabei nicht nur um den Nachweis oder die Entkräftung eines sexuellen Kontakts, sondern vor allem um die juristische Bewertung des Verhältnisses, des Vorsatzes, der Einvernehmlichkeit und der Beweislage. Der folgende Artikel beleuchtet diese Aspekte im Detail – aus Sicht der Verteidigung.

Die gesetzliche Grundlage: § 174c StGB im Detail

Wortlaut und Struktur

§ 174c Abs. 1 StGB lautet:

„Wer sexuelle Handlungen an einer anderen Person vornimmt, diese von der anderen Person an sich vornehmen lässt oder die andere Person dazu bestimmt, an oder vor einem Dritten sexuelle Handlungen vorzunehmen oder zu dulden, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft, wenn […] er ein Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnis zu der anderen Person hat und die Person wegen einer Krankheit oder Behinderung in besonderer Weise schutzbedürftig ist.“

Schutzrichtung und Rechtsgut

Der Gesetzgeber verfolgt mit § 174c StGB einen doppelten Schutzzweck:

  • die sexuelle Selbstbestimmung besonders schutzbedürftiger Personen
  • das Vertrauen der Allgemeinheit in beratende und betreuende Institutionen

Es handelt sich also um ein abstraktes Gefährdungsdelikt, bei dem bereits die besondere Konstellation und das Machtgefälle zur Strafbarkeit führen können – unabhängig von objektivem Zwang oder Gewaltanwendung.

Tatbestandsmerkmale im Einzelnen

1. Tatobjekt: Die schutzbedürftige Person

Nicht jede betreute oder behandelte Person ist automatisch tatbestandsrelevant. Es bedarf einer qualifizierten Schutzbedürftigkeit, etwa wegen:

  • seelischer Erkrankung (z. B. Depression, Schizophrenie)
  • geistiger Behinderung (z. B. Lernschwäche, Demenz)
  • körperlicher Erkrankung mit Abhängigkeitscharakter (z. B. Sucht)
  • laufender psychotherapeutischer Behandlung

Achtung: Auch Personen, die nicht objektiv krank sind, können unter den Schutz fallen, wenn sie subjektiv davon ausgehen, sich in einem heilenden Verhältnis zu befinden.

Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Beamtenverhältnisses

2. Täter-Opfer-Verhältnis: Das Obhutsverhältnis

Zentrales Element ist das Obhutsverhältnis. Gemeint ist ein verantwortliches Betreuungsverhältnis mit persönlichem Vertrauenscharakter. Das können sein:

  • ärztliche Behandlung (auch einmalige Konsultation)
  • psychologische oder psychotherapeutische Begleitung
  • gesetzliche oder behördliche Betreuung
  • soziale Hilfe oder Pflege

Nicht ausreichend ist ein bloß formales Verhältnis – z. B. zwischen Angestellten ohne Patienten- oder Klientenkontakt und Betreuten.

Rechtsprechungstipp: Nach einer Entscheidung des LG Hamburg liegt kein Obhutsverhältnis vor, wenn sich das Opfer dem Täter nicht persönlich anvertraut hat (vgl. Urteil vom 10.01.2018, Az. 608 KLs 5/17). Dies ist ein zentraler Verteidigungsansatz!

3. Sexuelle Handlung mit Körperkontakt

Erforderlich ist eine sexuelle Handlung im Sinne des § 184h StGB – also ein körperlicher Kontakt, der objektiv geeignet ist, ein sexuelles Begehren zu wecken oder zu befriedigen. Beispiele:

  • Intimes Streicheln, Küssen, Geschlechtsverkehr
  • Orale oder manuelle Handlungen mit sexuellem Bezug

Nicht erfasst sind verbale Anspielungen, optische Reize oder bloßes Ausziehen ohne Kontakt – es sei denn, dies erfolgt auf Zwang oder Täuschung (dann evtl. andere Delikte).

4. Ausnutzung des Verhältnisses

Dies ist der juristisch schwer fassbare Kern des Tatbestands. Strafbar ist nur, wer das Obhutsverhältnis instrumentalisiert, um Zugang zu sexuellen Handlungen zu erhalten.

Kritische Fragen der Verteidigung:

  • Gab es eine emotionale oder gleichwertige Bindung jenseits der beruflichen Rolle?
  • War der sexuelle Kontakt „losgelöst“ vom professionellen Kontext?
  • Ist eine Ausnutzung nachweisbar – oder war der Kontakt unabhängig vom Verhältnis?

Die Beantwortung dieser Fragen erfordert eine präzise Tatsachenanalyse – häufig gestützt auf Zeugenaussagen, Chatverläufe oder Verhaltensmuster.

5. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz

Der Täter muss die Tat vorsätzlich begehen, also wissen, dass:

  • ein Obhutsverhältnis besteht
  • die betroffene Person besonders schutzbedürftig ist
  • er seine Position für sexuelle Zwecke nutzt

Auch Eventualvorsatz genügt – etwa wenn der Täter die Möglichkeit erkennt, aber billigend in Kauf nimmt, die Schwäche des Opfers auszunutzen.

Hier setzt die Verteidigung an: War sich der Beschuldigte des besonderen Schutzbedarfs wirklich bewusst? Oder war das Verhältnis kollegial, freundschaftlich oder „auf Augenhöhe“?

Der Versuch: Frühzeitiges Eingreifen der Strafbarkeit

Auch der Versuch ist strafbar (§ 174c Abs. 3 StGB). Er beginnt mit dem unmittelbaren Ansetzen zur Tat – also oft schon bei:

  • eindeutigen sexuellen Andeutungen
  • Anbahnungsversuchen mit Bezug auf die Obhutssituation
  • psychischer Beeinflussung des Opfers zur Einwilligung

Ob dies bereits den Schwellenwert überschreitet, ist in der Praxis häufig strittig – und bietet juristisch angreifbare Entscheidungspunkte.

Strafmaß und Strafzumessung

§ 174c StGB sieht eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren vor – eine Geldstrafe ist ausgeschlossen. Auch ein minderschwerer Fall ist gesetzlich nicht vorgesehen.

Strafmildernde Aspekte:

  • erstmalige Tatbegehung
  • geständiges Verhalten
  • therapeutische Aufarbeitung
  • emotionale Nähe zum Opfer außerhalb des Obhutsverhältnisses

Strafschärfend:

  • Ausnutzung langjähriger Betreuung
  • Manipulation oder Drohung
  • Wiederholungstat
  • besonders verletzlicher Zustand des Opfers

Beweisproblematik: Aussage gegen Aussage

Wie in vielen Sexualstrafverfahren ist auch hier der klassische Konflikt:

Eine belastende Aussage – keine objektiven Beweise.

In solchen Fällen gelten die Maßstäbe der BGH-Rechtsprechung zur „aussagepsychologischen Glaubwürdigkeitsprüfung“. Diese verlangt u. a.:

  • innere Stimmigkeit
  • Detailreichtum
  • Widerspruchsfreiheit über Zeit
  • Realkennzeichen in der Aussage

Ein erfahrener Strafverteidiger wird darauf bestehen, dass diese Maßstäbe strikt angewendet werden – und bei Fehlen entsprechender Kriterien auf einen Freispruch drängen.

Sachverständigengutachten – Hilfe oder Gefahr?

Insbesondere bei psychisch erkrankten oder behandelten Opfern wird regelmäßig ein psychiatrisches Gutachten eingeholt. Dieses soll klären:

  • Ist das Opfer glaubwürdig?
  • Besteht tatsächlich Schutzbedürftigkeit?
  • Gab es eine therapeutische Beziehung?

Die Auswahl des Gutachters, die Fragestellung und die Methodik sind dabei entscheidend – und häufig angreifbar. Verteidiger sollten eigene Gutachten anregen oder Gegengutachten einholen.

Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Beamtenverhältnisses

Prozesstaktik und Verteidigungsansätze

Frühes Schweigen – späte Klarheit

Beschuldigte sollten zu Beginn unbedingt von ihrem Schweigerecht Gebrauch machen. Viele Verfahren scheitern später an unbedachten Aussagen in der ersten Vernehmung.

Typische Verteidigungsstrategien

  • Bestreiten des Obhutsverhältnisses
  • Anzweifeln der Schutzbedürftigkeit
  • Einvernehmlichkeit – losgelöst vom beruflichen Kontext
  • Fehlende Ausnutzung oder Manipulation
  • Aussagepsychologische Angriffe
  • Sachverständigenkritik

Fazit: Ein schwerer Vorwurf – aber kein Automatismus

§ 174c StGB schützt berechtigterweise verletzliche Menschen. Doch nicht jeder therapeutische Kontakt, der in einer privaten Begegnung endet, ist strafbar. Gerade dort, wo berufliche Nähe emotional wird, braucht es juristische Differenzierung statt moralischer Vorverurteilung.

Die Praxis zeigt: Viele Vorwürfe lassen sich erfolgreich entkräften – durch Strategie, Expertise und den Mut zur kritischen Prüfung.


FAQs

Wann ist ein Obhutsverhältnis rechtlich relevant?
Wenn eine persönliche Betreuung mit fachlicher oder hoheitlicher Verantwortung besteht – etwa durch Ärzte, Therapeuten oder gesetzliche Betreuer.

Kann einvernehmlicher Sex auch strafbar sein?
Ja, wenn ein beruflich begründetes Machtverhältnis ausgenutzt wurde – selbst bei Zustimmung des Opfers.

Was bedeutet „Ausnutzen“ im strafrechtlichen Sinn?
Eine Handlung gilt als ausgenutzt, wenn der Täter gezielt die Nähe und das Vertrauen aus dem Verhältnis nutzt, um sexuelle Handlungen zu initiieren.

Wie kann ich mich gegen den Vorwurf verteidigen?
Mit einer individuellen, frühzeitigen Verteidigungsstrategie: Akteneinsicht, Prüfung des Obhutsverhältnisses, Aussagepsychologie und Gutachterkritik.

Was droht bei Verurteilung?
Mindestens drei Monate Freiheitsstrafe, ggf. Berufsverbot, Approbationsentzug, Führungszeugniseintrag – mit gravierenden sozialen und beruflichen Folgen.