Ein funktionierendes gesellschaftliches Zusammenleben erfordert, dass Menschen einander in Notsituationen unterstützen. Das deutsche Strafrecht verlangt daher ein Mindestmaß an Solidarität und bestraft eine Untätigkeit in akuten Notlagen als unterlassene Hilfeleistung gemäß § 323c StGB.
Unterlassene Hilfeleistung liegt vor, wenn eine Person bei einem Unglücksfall, einer gemeinen Gefahr oder einer gemeinen Not keine Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und zumutbar wäre.
Die gesetzliche Regelung schützt zentrale Rechtsgüter wie Leben und körperliche Unversehrtheit. Eine Strafbarkeit nach § 323c StGB setzt folgende Voraussetzungen voraus:
- Tatsituation: Es liegt ein Unglücksfall, eine gemeine Gefahr oder eine gemeine Not vor.
- Zumutbare Hilfeleistung: Der Täter hätte helfen können, ohne sich selbst in erhebliche Gefahr zu bringen.
- Vorsatz: Die unterlassene Hilfeleistung wurde bewusst in Kauf genommen.
Das Gesetz erfasst nicht nur Personen, die direkt an einem Unglück beteiligt sind, sondern auch Unbeteiligte, die eine erforderliche und zumutbare Hilfe verweigern.
Wann ist unterlassene Hilfeleistung strafbar?
1. Die Tatsituation: Wann besteht eine Pflicht zur Hilfe?
Unglücksfall
Ein Unglücksfall ist ein plötzlich eintretendes Ereignis, das eine erhebliche Gefahr für Menschen oder Sachwerte darstellt. Darunter fallen:
- Verkehrsunfälle: Eine Person beobachtet einen schweren Autounfall, unternimmt aber nichts.
- Arbeitsunfälle: Ein Kollege stürzt von einer Leiter, doch niemand ruft einen Arzt oder leistet Erste Hilfe.
- Bewusstlose Personen: Wer eine am Boden liegende Person ignoriert und keinen Notruf absetzt, macht sich strafbar.
Ein Suizidversuch gilt nur dann als Unglücksfall, wenn die betroffene Person nicht mehr frei über ihr Handeln entscheiden kann. Eine vorsätzlich selbstbestimmte Selbsttötung begründet keine Pflicht zur Hilfeleistung.
Gemeine Gefahr
Eine gemeine Gefahr besteht, wenn eine größere Anzahl von Menschen oder erhebliche Sachwerte bedroht sind. Beispiele:
- Großbrände oder Chemieunfälle
- Hochwasser oder andere Naturkatastrophen
- Hindernisse auf Autobahnen, die weitere Unfälle verursachen können
Gemeine Not
Eine gemeine Not beschreibt eine länger andauernde Notlage, die viele Menschen betrifft, z. B.:
- Versorgungsengpässe nach Naturkatastrophen
- Ausfall der Trinkwasserversorgung in einer Region

2. Die Pflicht zur Hilfeleistung
Eine Person ist zur Hilfe verpflichtet, wenn die Hilfeleistung:
- Erforderlich ist – also objektiv dazu geeignet, einen drohenden Schaden zu verhindern.
- Zumutbar ist – das bedeutet, sie darf nicht mit erheblichen Gefahren oder schweren Nachteilen für den Helfenden verbunden sein.
Was gilt als Hilfeleistung?
- Erste Hilfe leisten (z. B. stabile Seitenlage, Herzdruckmassage)
- Notruf wählen (112)
- Andere Personen zur Hilfe holen
Wann ist eine Hilfeleistung unzumutbar?
- Wenn der Helfer sich selbst in Lebensgefahr bringen würde.
- Wenn eine „Pflichtenkollision“ vorliegt, d. h. der Helfer würde durch die Hilfeleistung eine wichtige eigene Verpflichtung verletzen.
- Wenn der Hilfsbedürftige die Hilfe ausdrücklich verweigert.
Wichtig: Wer nur aus Angst oder Gleichgültigkeit nicht hilft, kann sich strafbar machen. Ein kurzer Schockmoment ist erlaubt, aber längeres Zögern kann bereits strafbar sein.
Unterlassene Hilfeleistung mit Todesfolge
Wenn eine unterlassene Hilfeleistung dazu führt, dass eine Person stirbt, kann dies schwerwiegendere strafrechtliche Folgen haben. Neben § 323c StGB kommen dann auch andere Delikte in Betracht:
- Fahrlässige Tötung (§ 222 StGB)
- Totschlag durch Unterlassen (§ 212 StGB in Verbindung mit § 13 StGB)
Beispiel: Unterlassene Hilfeleistung mit tödlichem Ausgang
Ein Autofahrer sieht eine schwer verletzte Person auf der Straße liegen, ignoriert sie jedoch. Hätte eine rechtzeitige Hilfeleistung das Leben des Opfers gerettet, könnte dies neben der unterlassenen Hilfeleistung auch als fahrlässige Tötung gewertet werden.
Unterlassene Hilfeleistung in besonderen Bereichen
Unterlassene Hilfeleistung in der Familie
Innerhalb der Familie stellt sich die Frage, ob besondere Pflichten zur Hilfeleistung bestehen. Grundsätzlich gilt: Auch enge familiäre Bindungen entbinden nicht von der gesetzlichen Pflicht zur Hilfeleistung.
Eltern und Kinder
Eltern haben eine gesetzliche Fürsorgepflicht gegenüber ihren minderjährigen Kindern. Unterlassen sie es, ihrem Kind in einer akuten Gefahrensituation zu helfen – beispielsweise keine ärztliche Hilfe zu rufen –, kann dies nicht nur als unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB), sondern auch als Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB)gewertet werden.
Beispiel:
Ein Kind stürzt schwer mit dem Fahrrad und bleibt bewusstlos liegen. Die Eltern, die den Unfall sehen, leisten jedoch keine Hilfe und rufen keinen Notarzt.
Ehepartner und Verwandte
Es gibt keine automatische Rechtspflicht, Ehepartnern oder anderen nahen Angehörigen zu helfen. Dennoch kann eine unterlassene Hilfeleistung vorliegen, wenn eine Person in einer Notlage ist und der Angehörige nicht hilft, obwohl es für ihn zumutbar wäre.
Beispiel:
Ein Ehemann beobachtet, wie seine Frau zu Hause einen Schlaganfall erleidet, ruft aber keinen Notarzt, weil er glaubt, dass es „nicht so schlimm“ sei.
Ärzte und unterlassene Hilfeleistung: Wann eine Behandlungspflicht besteht
Ärzte und medizinisches Personal haben eine besondere Verantwortung. Eine Behandlung zu verweigern, kann strafrechtlich als unterlassene Hilfeleistung gewertet werden, insbesondere in Notfallsituationen.
Beispiele für strafbare unterlassene Hilfeleistung im medizinischen Bereich:
- Ein Arzt in einer Notaufnahme weigert sich, einen schwer verletzten Patienten ohne vorherige Bezahlung zu behandeln.
- Ein Zahnarzt lehnt eine Behandlung ab, obwohl der Patient unter akuten, unerträglichen Schmerzen leidet.
Allerdings gibt es auch Grenzen:
- Wenn eine Behandlung medizinisch nicht angezeigt oder rechtlich unzulässig ist (z. B. bei Patientenverfügungen), liegt keine unterlassene Hilfeleistung vor.
- Ein Arzt darf eine nicht dringend notwendige Behandlung verweigern.
Arbeitgeber und unterlassene Hilfeleistung
Arbeitgeber tragen eine besondere Verantwortung für ihre Mitarbeiter. Wer in einem Unternehmen tätig ist, kann in bestimmten Situationen zur Hilfeleistung verpflichtet sein.
Beispielhafte Fälle:
- Arbeitsunfall: Ein Mitarbeiter verletzt sich schwer an einer Maschine, doch der Vorgesetzte ruft keinen Rettungsdienst.
- Hitzenotfall: Ein Bauarbeiter kollabiert aufgrund von Überhitzung, doch der Arbeitgeber schickt ihn nach Hause, ohne medizinische Hilfe zu leisten.
Solche Fälle können zu einer Strafverfolgung führen, insbesondere wenn dadurch gesundheitliche Schäden entstehen oder der Mitarbeiter stirbt.

Jugendamt und unterlassene Hilfeleistung
Das Jugendamt hat die Aufgabe, Kinder vor Misshandlung und Vernachlässigung zu schützen. Wird eine offensichtliche Kindeswohlgefährdung ignoriert, kann dies strafrechtliche Konsequenzen haben.
Beispiel:
Ein Jugendamt erhält mehrfach Hinweise, dass ein Kind verwahrlost, unterernährt und misshandelt wird, unternimmt aber keine Maßnahmen. Das Kind stirbt schließlich an Vernachlässigung.
In solchen Fällen könnte das Verhalten der zuständigen Mitarbeiter als unterlassene Hilfeleistung oder sogar als Strafvereitelung (§ 258 StGB) gewertet werden.
Unterlassene Hilfeleistung in der Pflege
In der Pflegebranche sind Fälle von unterlassener Hilfeleistung leider keine Seltenheit. Besonders betroffen sind alte, demente oder bettlägerige Personen, die auf Pflegekräfte angewiesen sind.
Beispiele für strafbare unterlassene Hilfeleistung in der Pflege:
- Eine bettlägerige Patientin leidet unter starken Schmerzen, doch das Pflegepersonal verweigert die Medikamentengabe.
- Ein dehydrierter Pflegeheimbewohner bekommt tagelang keine Flüssigkeit, bis er ins Koma fällt.
Solche Fälle können neben unterlassener Hilfeleistung auch als Körperverletzung durch Unterlassen (§ 223 StGB)oder sogar als Totschlag durch Unterlassen (§ 212 StGB) geahndet werden.
Unterlassene Hilfeleistung bei Demenzkranken und psychisch Erkrankten
Der Umgang mit Menschen mit Demenz oder psychischen Erkrankungen stellt Angehörige, Pflegepersonal und Behörden oft vor große Herausforderungen.
Beispiele:
- Eine demente Frau verlässt nachts unbemerkt das Pflegeheim, doch die Pflegekräfte unternehmen nichts, um sie zu finden.
- Ein psychisch kranker Mann zeigt Anzeichen einer schweren Psychose, aber niemand ruft einen Arzt oder Notdienst.
Die Frage der Strafbarkeit hängt oft davon ab, ob die handelnde Person überhaupt erkennen konnte, dass eine akute Notlage vorlag.
Suizidankündigung: Muss man helfen?
Eine Suizidankündigung begründet nicht automatisch eine Pflicht zur Hilfeleistung. Das Gesetz unterscheidet zwischen:
- Freiwilligem, überlegtem Suizid: Hier besteht keine Pflicht zur Hilfeleistung.
- Akuter Selbstgefährdung oder Hilflosigkeit: In diesem Fall kann eine unterlassene Hilfeleistung strafbar sein.
Beispiel:
Ein Lehrer erfährt, dass ein Schüler wiederholt Suizidabsichten äußert, ignoriert dies jedoch. Falls es tatsächlich zu einem Suizidversuch kommt, könnte eine Strafbarkeit in Betracht kommen.
Besonders problematisch ist die Abgrenzung zur Beihilfe zum Suizid (§ 217 StGB), die unter bestimmten Umständen strafbar sein kann.
FAQ zur unterlassenen Hilfeleistung
1. Muss ich helfen, wenn bereits andere helfen?
Nein, wenn die Situation bereits durch andere ausreichend versorgt ist, besteht keine zusätzliche Pflicht.
2. Droht eine Strafe, wenn ich Angst habe zu helfen?
Ja, Angst allein schützt nicht vor Strafe. Sie müssen zumindest den Notruf wählen.
3. Ist eine unterlassene Hilfeleistung immer vorsätzlich?
Ja, Fahrlässigkeit reicht nicht aus. Der Täter muss es bewusst unterlassen haben.
4. Kann ich auch als Unfallverursacher bestraft werden?
Ja, auch ein Schuldiger muss helfen.
5. Was passiert, wenn ich mich durch Helfen selbst gefährde?
Dann entfällt die Pflicht zur Hilfeleistung.
6. Gibt es eine Verpflichtung, einen Ertrinkenden zu retten?
Nicht unbedingt. Ein Nichtschwimmer muss sich nicht selbst in Gefahr bringen. Ein guter Schwimmer könnte jedoch verpflichtet sein, zu helfen.
7. Macht sich ein Gaffer strafbar?
Ja, wer Rettungskräfte behindert oder keine Hilfe leistet, kann bestraft werden.
8. Was passiert, wenn ein Arzt die Behandlung verweigert?
Ein Arzt kann sich strafbar machen, wenn er einen Notfall unbegründet ablehnt.
9. Gilt die unterlassene Hilfeleistung auch für Unternehmen?
Ja, ein Arbeitgeber, der nicht hilft oder Hilfe verhindert, kann sich strafbar machen.
10. Was tun, wenn ich eine Vorladung oder Anklage erhalte?
Machen Sie keine Aussage ohne Anwalt und lassen Sie sich rechtlich beraten.
Fazit
Falls Sie selbst mit einer Anklage oder einer Vorladung wegen unterlassener Hilfeleistung konfrontiert sind, sollten Sie unbedingt einen erfahrenen Strafverteidiger hinzuziehen und keine Aussage ohne vorherige rechtliche Beratung machen.