Aussage gegen Aussage
In juristischen Verfahren kommt es häufig vor, dass sich Zeugenaussagen ohne eindeutige Beweise gegenüberstehen. Dieses Dilemma, bei dem die Glaubwürdigkeit der Beteiligten im Mittelpunkt steht, ist ein zentrales prozessuales Thema. Erfahren Sie mehr über die Konstellation „Aussage gegen Aussage“ in rechtlichen Prozessen.
Was ist eine „Aussage gegen Aussage“?
„Aussage gegen Aussage“ ist ein juristischer Ausdruck, der eine Situation beschreibt, in der es keine weiteren Beweise oder unabhängigen Zeugen gibt, sondern lediglich die widersprüchlichen Aussagen der beteiligten Parteien.
Solche Konstellationen treten häufig in Strafverfahren auf, insbesondere bei:
- Sexualdelikten (z. B. Vergewaltigung, sexuelle Nötigung),
- Körperverletzungsdelikten,
- Diebstahl und Betrug,
- Bedrohungen oder Beleidigungen.
Da objektive Beweise fehlen, hängt die Entscheidung des Gerichts maßgeblich davon ab, welche Aussage als glaubwürdiger angesehen wird.
Warum sind „Aussage gegen Aussage“-Fälle problematisch?
Ohne Sachbeweise wie DNA-Spuren, Videoaufnahmen oder neutrale Zeugen besteht die Gefahr, dass subjektive Einschätzungen und persönliche Überzeugungen der Richter über die Wahrheit entscheiden.
Gerade in gesellschaftlich sensiblen Verfahren, etwa im Sexualstrafrecht, kann es vorkommen, dass die Gerichte dazu neigen, eher den Aussagen des vermeintlichen Opfers zu glauben. Die Unschuldsvermutung darf aber nicht durch eine einseitige Betrachtung der Beweise ausgehöhlt werden.
Die Rolle von § 261 StPO – Freie richterliche Beweiswürdigung
Die rechtliche Grundlage für die Beweiswürdigung findet sich in § 261 StPO:
„Das Gericht entscheidet über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.“
Dies bedeutet:
- Das Gericht ist nicht an bestimmte Beweisregeln gebunden.
- Es kann eine Verurteilung auch allein auf eine Aussage stützen, wenn es von deren Glaubwürdigkeit überzeugt ist.
- Bloße Zweifel an der Schuld des Angeklagten können jedoch eine Verurteilung verhindern.
Die Unschuldsvermutung („in dubio pro reo“) gilt auch in diesen Fällen. Das bedeutet, dass eine Verurteilung nur erfolgen darf, wenn das Gericht eine hohe Überzeugung von der Schuld des Angeklagten hat.
Wie beurteilt das Gericht die Glaubwürdigkeit von Aussagen?
In Fällen ohne Sachbeweise wird intensiv geprüft, ob eine Aussage glaubwürdig ist. Folgende Kriterien spielen dabei eine Rolle:
- Detailreichtum: Glaubwürdige Aussagen enthalten viele Details und wirken nicht auswendig gelernt.
- Konstanz: Eine glaubwürdige Aussage bleibt über mehrere Vernehmungen hinweg stabil.
- Plausibilität: Die geschilderten Abläufe müssen realistisch sein und dürfen nicht gegen logische Regeln verstoßen.
- Emotionale Schilderung: Eine emotionale Betroffenheit kann ein Indiz für Wahrhaftigkeit sein – aber auch einstudiert wirken.
- Fehlende Widersprüche: Widersprüche innerhalb der Aussage oder zu früheren Aussagen können die Glaubwürdigkeit untergraben.
In vielen Fällen werden aussagepsychologische Gutachten herangezogen, um die Glaubwürdigkeit einer Zeugenaussage zu prüfen.
Gefahren der Aussagepsychologie
Auch psychologische Gutachter können irren. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen sich später herausstellte, dass falsche Aussagen als glaubwürdig eingestuft wurden.
Falsche Verdächtigungen können aus unterschiedlichen Motiven erfolgen:
- Rache oder Vergeltung (z. B. nach Trennungen oder Streitigkeiten),
- Aufmerksamkeit oder Mitgefühl (z. B. in psychologischen Ausnahmezuständen),
- Versicherung oder finanzielle Vorteile,
- Falsche Erinnerungen durch Beeinflussung durch Dritte.
Gerade im Sexualstrafrecht sind Fälle dokumentiert, in denen unschuldige Personen aufgrund einer einzigen belastenden Aussage verurteilt wurden.
Typische Fallkonstellationen – Beispiele aus der Praxis
1. Sexualstrafrecht: Vergewaltigung ohne Beweise
Ein Mann wird wegen Vergewaltigung angezeigt. Das mutmaßliche Opfer schildert detailliert den Tathergang, es gibt jedoch keine körperlichen Spuren oder Zeugen. Die Verteidigung zeigt auf, dass sich das vermeintliche Opfer mehrfach widersprochen hat.
➡ Ergebnis: Ohne weitere Beweise wird das Verfahren eingestellt, da Zweifel an der Glaubwürdigkeit bestehen.
2. Körperverletzung: Streit ohne Zeugen
Zwei Männer geraten in eine Schlägerei. Beide behaupten, der jeweils andere habe angefangen. Es gibt keine Videoaufnahmen oder neutralen Zeugen.
➡ Ergebnis: Das Verfahren wird eingestellt, da keine der beiden Versionen bewiesen werden kann.
3. Bedrohung oder Stalking: Aussage gegen Aussage
Eine Person behauptet, per Telefon oder Nachricht bedroht worden zu sein. Der Beschuldigte streitet dies ab. Es gibt keine Nachweise, da die angeblichen Nachrichten gelöscht wurden.
➡ Ergebnis: Falls das Gericht die Belastungszeugin für glaubwürdig hält, kann es trotzdem zu einer Verurteilung kommen.
Verteidigungsstrategien in Aussage-gegen-Aussage-Fällen
Ein erfahrener Strafverteidiger setzt auf folgende Strategien:
1. Widersprüche und Ungenauigkeiten aufdecken
Jede Vernehmung wird analysiert, um Widersprüche oder Erinnerungslücken aufzudecken.
2. Glaubhaftigkeitsgutachten anfechten
Falls ein psychologisches Gutachten vorliegt, kann die Verteidigung ein Gegengutachten beantragen.
3. Alternativhypothesen präsentieren
Wenn der Tatvorwurf nicht bewiesen werden kann, muss geprüft werden, ob eine alternative Erklärung wahrscheinlicher ist.
4. Frühzeitige Einflussnahme auf das Ermittlungsverfahren
Viele Fehler passieren bereits in der ersten Vernehmung. Daher ist es entscheidend, frühzeitig eine Verteidigungsstrategie zu entwickeln.
5. Keine Aussage ohne Anwalt
Beschuldigte sollten niemals ohne Rechtsbeistand eine Aussage machen. Ein unbedachtes Wort kann die Verteidigung erheblich erschweren.
Fehlurteile – Wenn Unschuldige verurteilt werden
Es gibt zahlreiche Fälle, in denen unschuldige Personen verurteilt wurden, weil ihre Unschuldsvermutung faktisch untergraben wurde.
Ein Beispiel ist der Fall von Horst Arnold, einem Lehrer, der wegen Vergewaltigung verurteilt wurde – basierend allein auf der Aussage einer Kollegin. Nach fünf Jahren Haft wurde er rehabilitiert, weil sich herausstellte, dass die Anschuldigungen falsch waren.
➡ Dies zeigt, wie wichtig eine kritische Überprüfung von „Aussage gegen Aussage“-Fällen ist.
Tipps für Beschuldigte in Aussage-gegen-Aussage-Situationen
- Schweigen Sie! – Machen Sie keine Aussage ohne Anwalt.
- Beweise sichern! – Falls möglich, sammeln Sie Beweise für Ihre Unschuld.
- Widersprüche in der Gegenaussage finden!
- Zeugen oder Alibis prüfen! – Gibt es Personen, die Ihnen ein Alibi geben können?
- Sofort einen Strafverteidiger kontaktieren!
Fazit
„Aussage gegen Aussage“-Konstellationen sind gefährlich, weil sie oft allein auf subjektiven Einschätzungen beruhen. Ohne eine durchdachte Verteidigungsstrategie kann es trotz fehlender Sachbeweise zu einer Verurteilung kommen.
Deshalb gilt: Wer in eine solche Situation gerät, sollte schnellstmöglich einen Anwalt einschalten und keine vorschnellen Aussagen machen.
Häufige Fragen (FAQs)
1. Kann ich ohne Beweise verurteilt werden?
Ja, wenn das Gericht die belastende Aussage für glaubhaft hält.
2. Sollte ich als Beschuldigter aussagen?
Ohne vorherige Akteneinsicht durch einen Anwalt ist Schweigen meist die beste Strategie.
3. Was tun, wenn ich zu Unrecht beschuldigt werde?
Sofort einen Strafverteidiger einschalten und keine vorschnellen Reaktionen zeigen.
4. Welche Rolle spielt ein Gutachten zur Glaubhaftigkeit?
Es kann die Grundlage für eine Verurteilung sein, ist aber nicht unfehlbar.
5. Was passiert, wenn meine Aussage nicht geglaubt wird?
Dann droht eine Verurteilung. Eine geschickte Verteidigung kann jedoch Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Gegenseite aufdecken.